Compliance
Einleitung: Verständnis von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Wandel
In einem bemerkenswerten Urteil vom 13. Dezember 2023 (Az.: 5 AZR 137/22) hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) neue Maßstäbe bezüglich des Beweiswerts ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AUB), insbesondere im Zusammenhang mit Kündigungen, gesetzt. Dieses Urteil hat signifikante Implikationen für Arbeitssicherheitsfachkräfte und Betriebsräte, die wir in diesem Artikel näher beleuchten.
Grundlagen: Lohnfortzahlung und Arbeitsunfähigkeit
Das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) bildet die Basis für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Arbeitnehmer, die aufgrund von Krankheit arbeitsunfähig sind, haben einen Anspruch auf Fortzahlung ihres Entgelts durch den Arbeitgeber für bis zu sechs Wochen. Anschließend tritt die Krankenkasse mit der Zahlung von Krankengeld ein. Der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit erfolgt traditionell durch eine ärztliche AUB, den sogenannten “gelben Schein”, der üblicherweise einen hohen Beweiswert genießt.
BAG-Urteil: Kritische Betrachtung des Timings von Kündigung und Krankschreibung
Das BAG-Urteil stellt klar, dass der Beweiswert einer AUB unter bestimmten Umständen erschüttert sein kann. Ein solcher Fall tritt insbesondere dann ein, wenn die Ausstellung der AUB zeitlich unmittelbar auf eine Kündigung folgt oder die AUB exakt bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses reicht. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kündigung vom Arbeitnehmer oder vom Arbeitgeber ausgeht.
Fallbeispiel: Der Zeitarbeiter und die Frage der Glaubwürdigkeit
Ein konkretes Beispiel, das im Urteil behandelt wurde, betraf einen Zeitarbeiter, der kurz nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber mehrfach krankgeschrieben wurde. Die letzte Krankschreibung endete genau mit dem Ablauf des Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitgeber bezweifelte die Authentizität der Krankschreibung und verweigerte daraufhin die Lohnfortzahlung. Obwohl die unteren Gerichtsinstanzen dem Arbeitnehmer zunächst Recht gaben, kippte das BAG diese Entscheidungen mit der Begründung, dass der Arbeitnehmer nun den vollen Beweis der Arbeitsunfähigkeit erbringen muss.
Bedeutung für die Praxis: Einzelfallbetrachtung und Beweislast
Das Urteil des BAG setzt keinen allgemeingültigen Standard, sondern unterstreicht die Wichtigkeit der Betrachtung jedes Einzelfalls. Es führt nicht automatisch zum Verlust des Anspruchs auf Lohnfortzahlung, verschiebt jedoch die Beweislast auf den Arbeitnehmer. Dieser muss nun konkret nachweisen, dass er tatsächlich erkrankt war, beispielsweise durch detaillierte Schilderungen der Krankheitssymptome, ärztliche Befundberichte oder Zeugenaussagen des behandelnden Arztes.
Strategien für Fachkräfte und Betriebsräte
Dieses Urteil erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit von Fachkräften für Arbeitssicherheit und Betriebsräten. Sie sollten in der Lage sein, die neuen rechtlichen Gegebenheiten zu interpretieren und Mitarbeiter entsprechend zu beraten. Es ist wichtig, dass Arbeitnehmer über die möglichen Konsequenzen einer Krankschreibung im Zusammenhang mit einer Kündigung aufgeklärt werden. Betriebsräte sollten auch proaktiv auf eine transparente und faire Handhabung solcher Fälle im Unternehmen hinwirken.
Fazit: Ein neuer Blickwinkel im Arbeitsrecht
Zusammenfassend stellt das BAG-Urteil einen Wendepunkt in der Bewertung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dar. Während es die grundlegenden Rechte der Arbeitnehmer nicht untergräbt, fordert es doch eine kritischere Betrachtung von Krankschreibungen, insbesondere im Kontext von Kündigungen. Für Fachkräfte und Betriebsräte bedeutet dies eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Einzelfällen und eine angepasste Beratung ihrer Kollegen.
Arbeitspsychologie
Einleitung: Das Problem der Stigmatisierung
Stigmatisierung ist ein weit verbreitetes und tief verwurzeltes Problem im Berufsleben. Es handelt sich dabei um einen Prozess, bei dem Menschen aufgrund einer Krankheit oder eines Gesundheitszustands diskriminiert und ausgegrenzt werden. Diese Diskriminierung kann sowohl von Einzelpersonen als auch von Institutionen ausgehen und führt oft dazu, dass Betroffene zusätzlich zu ihrer Krankheit ein “doppeltes Leid” erfahren.
Die Auswirkungen der Stigmatisierung sind vielfältig und reichen von sozialer Isolation und Diskriminierung bis hin zu schlechterer medizinischer Versorgung und geringerer Lebensqualität. In einigen Fällen kann die Stigmatisierung sogar dazu führen, dass Menschen medizinische Hilfe vermeiden, was ihre Gesundheit weiter verschlechtert.
Als Fachkräfte für Arbeitssicherheit ist es wichtig, sich dieser Problematik bewusst zu sein. Stigmatisierung kann nicht nur die Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeiter beeinträchtigen, sondern auch das Arbeitsklima und die Produktivität negativ beeinflussen. Daher ist es entscheidend, Maßnahmen zur Bekämpfung der Stigmatisierung im Gesundheitswesen zu ergreifen und eine inklusivere und gesündere Arbeitsumgebung zu fördern.
In diesem Artikel werden wir das Konzept der Stigmatisierung weiter erläutern, die Auswirkungen auf Menschen mit Krankheiten diskutieren und die Notwendigkeit betonen, Stigmatisierung zu beenden und eine inklusivere Gesellschaft zu fördern. Wir werden auch konkrete Handlungsoptionen und Sofortmaßnahmen vorstellen, die zur Bekämpfung der Stigmatisierung im Gesundheitswesen beitragen können.
Doppeltes Leid: Krankheit und Stigmatisierung
Es ist eine traurige Realität, dass Menschen, die mit Krankheiten leben, oft nicht nur mit den physischen und emotionalen Auswirkungen ihrer Erkrankung zu kämpfen haben, sondern auch mit gesellschaftlicher Diskriminierung und Stigmatisierung. Dieses “doppelte Leid” kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und zu weiteren gesundheitlichen Problemen führen.
Einige Krankheiten werden in unserer Gesellschaft besonders stigmatisiert. Dazu gehören beispielsweise psychische Erkrankungen, Übergewicht und Abhängigkeitserkrankungen. Menschen, die mit diesen Krankheiten leben, werden oft diskriminiert und ausgegrenzt. Sie werden aufgrund ihrer Krankheit beurteilt und nicht als die Individuen gesehen, die sie sind.
Die Stigmatisierung kann dazu führen, dass Menschen ihre Krankheit verstecken und medizinische Hilfe vermeiden, was zu einer Verschlechterung ihrer Gesundheit führen kann. Darüber hinaus kann die Stigmatisierung auch dazu führen, dass Menschen sich selbst diskriminieren und ihre Fähigkeit, mit ihrer Krankheit umzugehen, untergraben.
Als Fachkräfte für Arbeitssicherheit ist es wichtig, sich dieser Problematik bewusst zu sein und Maßnahmen zu ergreifen, um die Stigmatisierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen. Dies kann beinhalten, eine inklusive und unterstützende Arbeitsumgebung zu fördern, Bildungsprogramme zur Sensibilisierung für diese Themen anzubieten und Unterstützung für Mitarbeiter bereitzustellen, die mit diesen Krankheiten leben.
Zehn Thesen gegen Stigmatisierung
In interdisziplinären Workshops wurden zehn Thesen erarbeitet, die als Leitfaden zur Bekämpfung der Stigmatisierung dienen können. Jede dieser Thesen adressiert einen wichtigen Aspekt der Stigmatisierung und bietet konkrete Ansätze zur Verbesserung.
- Forschung und Evidenz: Die Notwendigkeit, die Forschung zu Stigmatisierung und deren Auswirkungen zu stärken und auf Evidenz basierende Strategien zur Bekämpfung der Stigmatisierung zu entwickeln.
- Neudefinition von “Lifestyle”-Erkrankungen: Die Anerkennung, dass Krankheiten wie Übergewicht und Abhängigkeit nicht einfach auf “Lebensstil” reduziert werden können und dass diese Reduktion zur Stigmatisierung beiträgt.
- Bewusstsein über Sprache: Die Erkenntnis, dass die Art und Weise, wie wir über Krankheiten sprechen, zur Stigmatisierung beitragen kann und dass ein bewussterer Umgang mit Sprache notwendig ist.
- Aufklärung und Enttabuisierung: Die Notwendigkeit, Aufklärungsarbeit zu leisten und Tabus rund um Krankheiten zu brechen, um Stigmatisierung zu bekämpfen.
- Frühzeitige Verankerung von Aufklärung und Sensibilisierung: Die Wichtigkeit, bereits in der Ausbildung im Gesundheitsbereich das Bewusstsein für Stigmatisierung zu schärfen und Strategien zur Bekämpfung der Stigmatisierung zu vermitteln.
- Vertiefende Ausbildung im Gesundheitsbereich: Die Notwendigkeit, die Ausbildung im Gesundheitsbereich zu vertiefen, um ein besseres Verständnis für die Auswirkungen der Stigmatisierung auf die Gesundheitsversorgung zu fördern.
- Schaffung von Begegnungsräumen: Die Bedeutung der Schaffung von Räumen, in denen Menschen mit stigmatisierten Krankheiten aufeinandertreffen und Erfahrungen austauschen können.
- Partizipative Entscheidungsprozesse: Die Notwendigkeit, Menschen mit stigmatisierten Krankheiten in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und ihre Stimmen zu hören.
- Zusammenarbeit mit Influencern und Medienpartnerschaften: Die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Influencern und Medien, um das Bewusstsein für Stigmatisierung zu erhöhen und positive Botschaften zu verbreiten.
- Förderung von Zivilcourage: Die Notwendigkeit, Zivilcourage zu fördern und Menschen zu ermutigen, gegen Stigmatisierung einzutreten.
Handlungsoptionen und Sofortmaßnahmen
Es gibt verschiedene Handlungsoptionen und Sofortmaßnahmen, die zur Bekämpfung der Stigmatisierung im Gesundheitswesen ergriffen werden können. Einige davon sind:
- Mitglieder des Gesundheitsausschusses einladen: Durch die Einbindung von Mitgliedern des Gesundheitsausschusses in Diskussionen und Entscheidungsprozesse kann das Bewusstsein für die Problematik der Stigmatisierung erhöht und politische Unterstützung für Maßnahmen zur Bekämpfung der Stigmatisierung gewonnen werden.
- Kampagne der BZgA: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) könnte eine Kampagne starten, um das Bewusstsein für die Stigmatisierung von Krankheiten zu erhöhen und Informationen über die negativen Auswirkungen der Stigmatisierung zu verbreiten.
- Petition “Lifestyle”-Paragraf: Eine Petition könnte gestartet werden, um den “Lifestyle”-Paragrafen im Sozialgesetzbuch V zu ändern. Dieser Paragraf kann dazu beitragen, dass bestimmte Krankheiten als “Lifestyle”-Erkrankungen eingestuft und dadurch stigmatisiert werden.
- Partizipation von Betroffenen bei Aufklärung: Menschen, die von stigmatisierten Krankheiten betroffen sind, könnten in Aufklärungsmaßnahmen einbezogen werden. Ihre persönlichen Erfahrungen und Perspektiven können dazu beitragen, ein realistischeres und empathischeres Bild von diesen Krankheiten zu vermitteln.
- Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA): Die Betroffenen könnten ein Stimmrecht im G-BA erhalten, um ihre Interessen besser vertreten zu können.
Fazit und Aufruf zum Handeln
Die Stigmatisierung von Krankheiten ist ein tief verwurzeltes Problem, das sowohl individuelles Leid als auch gesellschaftliche Ausgrenzung verursacht. Es ist ein Problem, das wir gemeinsam angehen müssen, um eine inklusivere und empathischere Gesellschaft zu schaffen.
In diesem Artikel haben wir das Konzept der Stigmatisierung und seine Auswirkungen auf Menschen mit Krankheiten erörtert. Wir haben das “doppelte Leid” von Menschen beleuchtet, die nicht nur mit den Auswirkungen ihrer Krankheit, sondern auch mit gesellschaftlicher Diskriminierung und Stigmatisierung zu kämpfen haben. Wir haben zehn Thesen vorgestellt, die als Leitfaden zur Bekämpfung der Stigmatisierung dienen können, und wir haben mögliche Handlungsoptionen und Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Stigmatisierung im Gesundheitswesen diskutiert.
Jetzt ist es an der Zeit zu handeln. Als Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben Sie eine wichtige Rolle dabei, Stigmatisierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen und eine inklusivere Arbeitsumgebung zu fördern. Wir ermutigen Sie, die in diesem Artikel vorgestellten Thesen und Handlungsoptionen zu nutzen und aktiv Maßnahmen zur Bekämpfung der Stigmatisierung zu ergreifen.
Was kann die Fachkraft für Arbeitssicherheit im Betrieb tun?
Als Fachkraft für Arbeitssicherheit haben Sie eine Schlüsselrolle bei der Förderung eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds. Im Kontext der Stigmatisierung von Krankheiten können Sie folgende Maßnahmen in Betracht ziehen:
- Aufklärung und Sensibilisierung: Organisieren Sie Schulungen und Informationsveranstaltungen, um das Bewusstsein für die Stigmatisierung von Krankheiten zu erhöhen und ein besseres Verständnis für die Erfahrungen von Menschen mit stigmatisierten Krankheiten zu fördern.
- Einbindung von Betroffenen: Betroffene können eine wichtige Rolle bei der Aufklärung und Sensibilisierung spielen. Überlegen Sie, wie Sie Menschen mit stigmatisierten Krankheiten in Ihre Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen einbeziehen können.
- Schaffung eines unterstützenden Umfelds: Arbeiten Sie daran, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das unterstützend und inklusiv ist und in dem alle Mitarbeiter unabhängig von ihrer Gesundheitssituation respektiert und wertgeschätzt werden.
- Politische Maßnahmen: Überlegen Sie, wie Sie auf politischer Ebene Einfluss nehmen können, um die Stigmatisierung von Krankheiten zu bekämpfen. Dies könnte beispielsweise die Unterstützung von Petitionen oder die Zusammenarbeit mit Gesundheitsausschüssen beinhalten.
- Zusammenarbeit mit externen Organisationen: Es gibt viele Organisationen, die sich für die Bekämpfung der Stigmatisierung von Krankheiten einsetzen. Überlegen Sie, wie Sie mit diesen Organisationen zusammenarbeiten können, um Ihre Bemühungen zu unterstützen.
“Als Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben wir die Macht und die Verantwortung, Stigmatisierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen. Lassen Sie uns gemeinsam handeln, um ein sicheres und inklusives Arbeitsumfeld für alle zu schaffen.”
Donato Muro