Augenverätzungen und -verbrennungen gehören zu den gefährlichsten, aber zugleich häufig unterschätzten Arbeitsunfällen. In Betrieben, in denen mit Chemikalien gearbeitet wird – etwa in Laboren, Werkstätten oder auf Baustellen –, kann ein Spritzer ausreichen, um lebenslanges Leid zu verursachen. Und: In solchen Momenten entscheidet nicht der Arzt über das Schicksal des Auges – sondern die Person, die zuerst hilft.
Was viele nicht wissen: Die allererste Maßnahme nach einem Kontakt mit Laugen, Säuren oder heißen Substanzen ist nicht ein Anruf beim Notruf – sondern das sofortige Spülen des betroffenen Auges mit einer geeigneten Flüssigkeit. Und zwar sofort, ausdauernd und fachgerecht.
Lauge oder Säure – beides gefährlich, aber unterschiedlich tückisch
Laugen wie Natronlauge, Ammoniak oder Zement greifen das Auge extrem schnell an. Sie dringen rasch ins Gewebe ein, lösen Zellwände auf und zerstören die Hornhaut regelrecht von innen. Bereits nach Sekunden kann die Iris, Linse oder sogar der Ziliarkörper betroffen sein. Die Schäden sind tief, schmerzhaft – und oft irreversibel.
Säuren verätzen das Auge langsamer, aber nicht weniger gefährlich. Sie denaturieren Eiweiße, was zu einer Art “Verkochung” an der Oberfläche führt. Dadurch wird das tiefere Eindringen zwar etwas gebremst, doch starke Säuren wie Flusssäure oder Schwefelsäure umgehen diesen „Schutzmechanismus“ vollständig. Das Auge verliert sein klares Gewebe, Gefäße thrombieren, die Hornhaut trübt ein. Ohne sofortige Hilfe bleibt oft nur ein trüber, schmerzhafter Sehrest.
Spülen, spülen, spülen – aber bitte richtig!
Die wichtigste Erstmaßnahme lautet also: sofortiges und gründliches Spülen. Aber was heißt das konkret?
- Je früher, desto besser: Jede Sekunde zählt – Spülbeginn am besten innerhalb der ersten 30 Sekunden.
- Nicht zu kurz: Mindestens 15 Minuten spülen, bei starken Verätzungen auch länger.
- Nicht alleine: Der Verletzte kann das Auge meist nicht selbst offen halten. Deshalb ist ein Helfer notwendig, der das Lid öffnet und die Flüssigkeit gezielt ins Auge bringt.
- Alle Richtungen spülen: Das Auge sollte in alle Blickrichtungen geführt werden, damit auch die Umschlagfalten ausgespült werden.
- Nie aufhören, wenn der pH-Wert nicht stimmt: Erst wenn das Auge neutral ist (pH 7), darf man die Spülung beenden.
Das Problem: In der Realität fehlt oft das Wissen oder die Vorbereitung. Wer nicht regelmäßig geschult ist, wird in so einer Situation unsicher, zögert – und verliert wertvolle Zeit.
Welches Spülmittel ist das richtige?
Natürlich ist sauberes Wasser besser als gar nichts. Doch ideal ist es nicht. Denn reines Wasser ist hypoton, was bedeutet: Es kann bei verletztem Augengewebe das Gewebe aufquellen lassen und so das Eindringen von Chemikalien sogar verstärken.
Besser geeignet sind:
- Ringerlaktat-Lösung
- Balanced Salt Solution (BSS)
- Diphoterine® / Previn® (amphoteres Spülmittel für Säuren und Laugen)
Vorsicht: Phosphathaltige Lösungen (z. B. Isogutt®) sind absolut ungeeignet. Sie können mit freigesetztem Kalzium reagieren und zu Hornhautverkalkung führen – ein Albtraum für jeden Augenarzt.
Nicht nur spülen – auch schauen, was drinsteckt
Besonders bei Unfällen mit Zement, Kalk oder Metallspritzern reicht das Spülen alleine oft nicht. Reste der Substanzen setzen sich in die Bindehautumschläge oder sogar unter das Lid. Dann hilft nur eins: Lid ektropionieren, also vorsichtig umklappen, und alles gründlich entfernen. Ein spezieller Tupfer oder – in manchen Fällen – Öl kann helfen, die Rückstände zu lösen. Eine pauschale „Spülung von außen“ ist hier nicht ausreichend.
Und was passiert nach der Ersten Hilfe?
Das entscheidet der Augenarzt – je nach Schweregrad. Leichte Verätzungen heilen meist folgenlos ab. Schwere Fälle brauchen eine gezielte, oft auch chirurgische Versorgung. Bei tiefen Schäden drohen Entzündungen, Glaukome, Vernarbungen oder sogar der vollständige Verlust des Auges. Dann helfen nur noch spezialisierte Zentren mit plastisch-rekonstruktiven Möglichkeiten.
Besonders bei Stadium III und IV der Schädigung – also bei tiefgreifender Zerstörung von Hornhaut, Iris und umliegenden Strukturen – muss die Behandlung aggressiv und frühzeitig erfolgen. Entzündungshemmung, Antibiotika, Schutzmaßnahmen, eventuell Transplantationen – alles muss aufeinander abgestimmt sein. Aber: Ohne gute Erste Hilfe ist auch der beste Augenarzt machtlos.
Fazit: Wer zögert, riskiert das Augenlicht
In vielen Betrieben ist die Augenspülung ein „vergessenes Thema“. Die Notdusche wird zwar montiert, aber nie benutzt. Die Spülflasche steht irgendwo im Schrank. Niemand weiß, wie man sie anwendet. Und Schulungen? Fehlanzeige.
Dabei ist klar: Der Unterschied zwischen Sehen und Blindheit entscheidet sich oft in den ersten drei Minuten nach dem Unfall.
- Sorge dafür, dass die Notduschen zugänglich, einsatzbereit und sauber sind.
- Unterweise dein Team regelmäßig – nicht nur theoretisch, sondern praktisch.
- Und wenn du selbst im Ernstfall hilfst: Handle schnell, sicher und ohne Angst.
Denn dein Eingreifen kann der Unterschied sein – zwischen einem blinden Auge und einem Menschen, der weiter klar durchs Leben sieht.