Zielgruppe: Praktiker aus Chemie, Metall, Bau, Labor; Sicherheitsingenieure, Betriebsärzte, Führungskräfte.

Kernaussage: Die Gefährdungsbeurteilung nach GefStoffV ist ein rechtsverbindlicher Prozess mit klaren fachlichen Mindestanforderungen, methodischer Auswahl passend zu Stoff und Tätigkeit und konsequenter STOP‑Umsetzung. Nohl‑Farbfelder allein genügen nicht.

1) Formale und materielle Grundlagen – was zwingend gilt

Rechtsgrundlage: § 6 GefStoffV verpflichtet zur Ermittlung aller Gefährdungen aus Tätigkeiten mit Gefahrstoffen (auch entstehende/freigesetzte) und zur Dokumentation.

Methodischer Rahmen: TRGS 400 beschreibt Vorgehen, Verantwortlichkeit, Fachkunde und Dokumentation; spezielle TRGS (z. B. 401, 402, 720 ff., 910) sind einzubinden.

Maßnahmenhierarchie (STOP): Substitution vor Technik vor Organisation vor PSA. Rangfolge ist verbindlich.

Aktualität: TRGS 910 (Risikokonzept bei CMR‑Stoffen) wurde 2025 angepasst. Im Zweifel aktuelle Fassung prüfen.

2) Fachkunde – wer darf die Gefahrstoff‑GBU machen

Rechtslage in Klartext:

Gefährdungsbeurteilungen dürfen nur fachkundige Personen durchführen; sonst ist fachkundige Beratung beizuziehen.

Fachkunde bedeutet: passende Berufsausbildung oder entsprechende Berufserfahrung oder zeitnahe berufliche Tätigkeit, plus Arbeitsschutzkompetenz und spezifische Fortbildung.

Ein „Fachkundekurs“ allein macht noch keine Fachkunde; der Begriff „Gefahrstoffbeauftragter“ ist kein Rechtsbegriff der GefStoffV.

Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsarzt können fachkundig sein, sofern die genannten Anforderungen tatsächlich erfüllt sind.

Praktische Einordnung:

Für Gefahrstoff‑GBU ist einschlägige Stoff‑/Tätigkeitskompetenz erforderlich.

Eine rein allgemeine Sifa‑Qualifikation reicht oft nicht, wenn kein belastbarer Chemie‑ bzw. Toxikologiebezug vorhanden ist.

Geeignet sind insbesondere: Betriebsärzte (Arbeitsmedizin), Toxikologen, Chemiker/Chemieingenieure, Sicherheitsingenieure mit nachgewiesenem Chemiebezug.

Die Anforderungen müssen nicht in einer Person vereint sein. Bauen Sie ein fachkundiges Team.

3) Maßnahmenhierarchie (STOP) – so wird entschieden

1. Substitution prüfen und, wenn möglich, umsetzen (einschl. GHS‑Spaltenmodell).

2. Technische Maßnahmen: geschlossene Systeme, wirksame Erfassung an der Quelle (LEV), Einkapselungen, Automatisierung.

3. Organisatorische Maßnahmen: Expositionsdauer/Mengen reduzieren, räumliche Trennung, Reinigungs‑ und Freigaberegeln.

4. PSA: Atem‑, Hand‑, Augen‑/Gesichtsschutz nur nachrangig, begründet und befristet.

4) Risikobewertung – welche Methode ist wofür geeignet

Erst die fachliche Einordnung, dann die Methode:

Inhalation, nicht‑CMR, AGW vorhanden: TRGS 402. Ermittlung nichtmesstechnisch oder messtechnisch, Vergleich mit AGW/Beurteilungsmaßstab, Befund und Befundsicherung.

Carcinogene (CMR 1A/1B): TRGS 910. Risikobezogenes Konzept mit Akzeptanz‑/Toleranzkonzentrationen, Zuordnung zu Risikobereichen, stufenweiser Maßnahmenplan.

Dermal (Feuchtarbeit, Allergene, Hautresorption): TRGS 401. Gefährdungskategorien, Schutzmaßnahmen, Handschuh‑ und Hautschutzsystematik.

Brand/Explosion: TRGS 720–724 plus ggf. EMKG‑Modul Brand/Explosion. Explosionsschutz nach dem Schema Vermeiden – Einschränken – Zündquellen verhüten – konstruktiver Schutz.

Wenn kein AGW oder Beurteilungsmaßstab existiert (oder sehr frühe Planungsphase):

EMKG (BAuA): Control‑Banding für Inhalation, Haut, Brand/Explosion mit konkreten Schutzleitfäden und Dokumentationshilfen; besonders geeignet für KMU.

GESTIS‑Stoffenmanager: Control‑Banding plus quantitative nichtmesstechnische Expositionsabschätzung (TRGS‑402‑konform), mit Maßnahmenvorschlägen und Prioritäten.

Warum die Nohl‑Matrix für Gefahrstoffe nicht ausreicht:

Nohl bewertet allgemeine Gefährdungen über Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere. Für Gefahrstoffe fehlt der Bezug zu AGW, Expositionshöhen, Freisetzungsmechanismen und risikobezogenen Grenzwerten. Sie taugt höchstens als Zusatz zur Priorisierung von Maßnahmenpaketen – nicht als Gefahrstoff‑Risikobeurteilung.

5) Methodensteckbrief – robuste Alternativen statt Nohl

TRGS 402: Pflichtprogramm bei vorhandenen AGW. Nichtmess‑Verfahren möglich, Messung wo nötig; klarer Befund und Befristung mit Befundsicherung.

TRGS 910: Risikobezogenes Maßnahmenkonzept für CMR mit Akzeptanz‑/Toleranzwerten, drei Risikobereichen und einer priorisierten Maßnahmenmatrix.

TRGS 401: Systematik für dermale Risiken inkl. Handschuhwahl und Hautschutzplan.

TRGS 720–724: Explosionsschutz von der Gefährdungsbeurteilung bis zu konstruktiven Maßnahmen.

EMKG: Tier‑1‑Banding mit Schutzleitfäden und Vorlagen, inkl. Modul Brand/Explosion und Expo‑Tool.

GESTIS‑Stoffenmanager: Banding und quantitative Abschätzung, Maßnahmenkatalog, Priorisierung.

6) Praxisbeispiele – so kann eine Gefahrstoff‑GBU aussehen

Hinweis: Beispiele sind strukturell formuliert. Konkrete Zahlenwerte kommen aus Sicherheitsdatenblatt, GESTIS und TRGS, nicht „aus dem Bauch“.

Beispiel A – Offenes Umfüllen von leichtflüchtigem Lösemittel (Reinigen, 3 L/Tag)

Arbeitsbereich/Tätigkeit: Werkstatt, offenes Umfüllen/Reinigen.

Stoffdaten: hohe Flüchtigkeit, typische H‑Sätze H225/H319/H336.

Methodik:

Erstbewertung mit EMKG Inhalation (Menge, Flüchtigkeit, Tätigkeit, Raum) – typischerweise Maßnahmenstufe 2–3; Schutzleitfäden umsetzen.

Vertiefung über TRGS 402 nichtmesstechnisch (Leitkomponente, Vergleichsarbeitsplätze). Bei Unsicherheit Messung einplanen.

STOP‑Maßnahmen:

S: Ersatz durch wasserbasierte Reiniger prüfen (Spaltenmodell bewerten).

T: Trichter/geschlossenes System, wirksame Erfassung an der Quelle, dichte Gebinde, Dosierhilfen.

O: Kleinmengenregel, fester Umfüllplatz, Freigabeschein, Lüftungskontrollplan.

P: Atemschutz nur übergangsweise; geeignete Chemikalienschutzhandschuhe nach SDB/Permeation.

Wirksamkeitsprüfung: Luftvolumenstrom der LEV, ggf. VOC‑Indikator oder Kurzzeitmessprogramm; Prüfintervalle festlegen.

Beispiel B – Epoxidharz‑Reparatur (Sensibilisierung, Hautkontakt)

Arbeitsbereich/Tätigkeit: Instandsetzung, Spachteln/Verkleben, Erwärmung möglich.

Stoffdaten: H317 und relevante EUH‑Sätze; Aerosolbildung möglich.

Methodik: TRGS 401 (dermale Gefährdung) plus optional EMKG‑Haut als Erstbanding.

STOP‑Maßnahmen:

S: weniger sensibilisierende Systeme; vorbeschichtete Kartuschen.

T: geschlossene Dosiersysteme, lokale Absaugung, Einhausung beim Erwärmen.

O: Trennung sauber/schmutzig, Wechselkleidung, begrenzte Expositionszeit, Hygieneplan.

P: geeignete Handschuhe (Permeation beachten), Unterarm‑/Körperschutz; Hautschutzplan.

Wirksamkeitsprüfung: Handschuhwechselintervalle, Sichtkontrollen auf Hautverschmutzung, Beschwerdenmonitoring; Anpassung bei Änderungen.

Beispiel C – Schleifen an lösemittelgetränkten Teilen (Brand/Explosion möglich)

Arbeitsbereich/Tätigkeit: Vorbehandlung, Funkenbildung bei Lösemitteldämpfen.

Methodik: TRGS 720–724 plus EMKG‑Modul Brand/Explosion; Beurteilung der Bildung gefährlicher Gemische, Zündquellen, Zoneneinteilung.

STOP‑Maßnahmen:

S: nicht brennbare Medien, Emissionen minimieren.

T: Zündquellenvermeidung, Absaugung an der Quelle, Erdung, Gaswarnung, ggf. konstruktiver Explosionsschutz.

O: Freigabe Heißarbeiten, Mengenmanagement, Zonendisziplin.

P: antistatische PSA nur ergänzend.

Wirksamkeitsprüfung: Funktionsprüfungen LEV/Alarme, Audit der Zündquellenvermeidung, Explosionsschutzdokument fortschreiben.

7) Wahl der richtigen Risikomatrix/Methode – Entscheidlogik

1. CMR‑Stoffe? Dann immer TRGS 910, nicht Nohl.

2. AGW vorhanden? Dann TRGS 402 (nichtmess oder Messung), nicht Nohl.

3. Dermale Hauptrisiken? TRGS 401.

4. Brand/Explosion? TRGS 720–724 plus EMKG‑Modul Brand/Explosion.

5. Frühe Phase oder kein AGW, viele Tätigkeiten, wenig Daten? EMKG und/oder GESTIS‑Stoffenmanager. Später Messungen nachziehen.

6. Gemischte Gefährdungsliste priorisieren? Nohl nur als zusätzliches Organisationswerkzeug.

8) Substitution – S zuerst

Substitutionsprüfung ist Pflicht. GHS‑Spaltenmodell nutzen, Alternativen bewerten, Betriebsversuch planen, Entscheidung dokumentieren.

Bewertungslogik: Gefahr‑ und Expositionsreduktion, technische Machbarkeit, Qualität, Ergonomie, Kostenfolge, Akzeptanz.

9) Dokumentation – Muss‑Inhalte

Verantwortliche und fachkundige Personen, Datum, Versionierung.

Tätigkeiten/Arbeitsbereiche, Stoffe mit Bezeichnungen, CAS/EG, H‑/EUH‑Sätze.

Relevante Gefährdungen: inhalativ, dermal, physikalisch‑chemisch.

Exposition: Dauer, Häufigkeit, Mengen, Freisetzungsbedingungen, Raum/Lüftung.

Methodenwahl begründen (z. B. TRGS 402, TRGS 910, TRGS 401, TRGS 720–724, EMKG, Stoffenmanager).

Bewertung/Ergebnis: AGW‑Vergleich oder Risikobereich, EMKG‑Maßnahmenstufe.

STOP‑Maßnahmen konkret, Verantwortliche, Fristen.

Wirksamkeitsprüfung und Befundsicherung: Was, wie oft, durch wen, Grenz‑ und Zielwerte.

Betriebsanweisungen (TRGS 555) und Unterweisungen terminiert und dokumentiert.

Anhang: SDB, Messberichte, Fotos, Prüfprotokolle, Substitutionsdokumentation.

10) Hilfsmittel/Tools für die Praxis

BAuA EMKG: Leitfäden, Schutzleitblätter, Vorlagen, Expo‑Tool.

GESTIS‑Stoffenmanager (DGUV/IFA): Banding und quantitative Expositionsabschätzung, Maßnahmenkatalog und Priorisierung.

GESTIS‑Stoffdatenbank: Stoffinformationen und GHS‑Daten.

BG RCI‑Hilfen (A016, K001): Vorgehen, Vorlagen, Nohl‑Matrix nur als optionaler Anhang zur Priorisierung.

11) Häufige Fehler

Nohl‑Matrix anstelle TRGS‑Methoden bei Gefahrstoffen.

Fachkunde „light“ ohne Chemiebezug.

Keine Befundsicherung nach TRGS 402.

PSA als Dauerlösung statt zuerst Substitution/Technik/Organisation.

12) Minimal‑Vorlage: Aufbau einer Gefahrstoff‑GBU

Deckblatt: Arbeitsbereich, Tätigkeit, Verantwortliche (fachkundig), Datum, Version.

1. Tätigkeitsbeschreibung: Handgriffe, Häufigkeit, Dauer, Mengen, Umgebung (Raum, Lüftung).

2. Stoffdaten: Bezeichnung, CAS/EG, H‑/EUH‑Sätze, physikalische Eckdaten.

3. Methodik: gewählte Regelwerke/Tools und Begründung (z. B. TRGS 402 oder EMKG).

4. Bewertung/Ergebnis: AGW‑Vergleich bzw. Risikobereich oder EMKG‑Stufe; Befund mit Gültigkeit/Annahmen.

5. STOP‑Maßnahmen: Substitution, Technik, Organisation, PSA – konkret mit Verantwortlichen und Terminen.

6. Wirksamkeitsprüfung: Was, wie oft, durch wen; Schwellen/Zielwerte; Befristungen/Befundsicherung.

7. Unterweisung und Betriebsanweisung: erstellt, verteilt, unterwiesen; Termine.

8. Anhang: SDB, Messprotokolle, Fotos, Prüfungen, Substitutionsnachweis.

Download: Mustervorlage „Gefährdungsbeurteilung nach GefStoffV“ (PDF)

Hier können Sie eine praxisfertige Vorlage herunterladen, die den beschriebenen Aufbau (TRGS 402 / 401 / 910 / 720 ff. + EMKG) abbildet – inklusive Feldern für Stoffdaten, Tätigkeiten, STOP-Maßnahmen und Wirksamkeitsprüfung.

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13) Fazit für die Praxis

Gefahrstoffe bewertet man nicht mit Nohl, sondern Stoff‑ und tätigkeitsbezogen nach TRGS, EMKG oder GESTIS‑Stoffenmanager, und setzt konsequent STOP um. Fachkunde ist Kompetenz, nicht ein Zertifikat: einschlägige Ausbildung oder Erfahrung plus Fortbildung. Dokumentation und Befundsicherung machen die Gefährdungsbeurteilung Prüffest und wirksam.