1 Einleitung
Der Betrieb eines Unternehmens und die Schaffung einer Arbeitsumgebung gehen mit unzähligen Verantwortungen einher – erst Recht, wenn Mitarbeiter beschäftigt werden. Die Sicherstellung ihrer Gesundheit und Unversehrtheit obliegt grundsätzlich dem Betreiber, ihn trifft hier eine gesetzliche und eine moralische Pflicht. Doch wie kann er dieser Verantwortung gerecht werden? Die ersten Überlegungen zu dem Thema führen naheliegenderweise zunächst einmal zu technischen und organisatorischen Optimierungen. Eine zeitgemäße und der Tätigkeit entsprechende technische Ausstattung und Ausrüstung bildet den Grundstein für die Abwehr von Gefahren und Minimierung von Risiken. Eine tiefergehende Analyse erlaubt es anschließend, auch weniger offensichtliche Gefahren zu erkennen und durch die Einführung von Schutzmaßnahmen zu verhindern. Jedoch muss in diesem Zusammenhang auch Teil der Überlegung sein, wer die Tätigkeiten ausführt: der Mensch. Als unbeherrschbarer Faktor, welcher durch zahlreiche innere und externe Aspekte in seiner Entscheidungsfindung beeinflusst wird, ist er Teil der Arbeits- und Organisationspsychologie, wodurch er zu einem wichtigen Element im Rahmen der Risikoanalyse wird.
Das menschliche Verhalten und die Motivationen zur Entscheidung für eine Handlungsoption müssen zur Sicherstellung eines zeitgemäßen und wirksamen Arbeitsschutzes berücksichtigt werden.
So tritt in der heutigen Analyse der Risiken im Arbeitsumfeld der „Human Factor“ als gefahrerhöhendes Element immer weiter in den Vordergrund. Mithilfe von arbeitspsychologischen Ansätzen wird versucht, die häufigsten Einflussfaktoren auf sicherheitskritisches Verhalten zu erkennen und zu modellieren. Einer dieser Ansätze ist das Risikohomöostase-Modell nach Wilde von 1982, welches ein Modell im Hinblick auf die Ursachen von Verkehrsunfällen darstellt und die größte Gefahr im Zusammenhang mit sicherheitskritischem Handeln den Einzelnen in seiner individuellen und nicht durch äußere Faktoren beeinflussbaren Risikoakzeptanz sieht.
Das Modell unter Berücksichtigung der Human Factors und der individuellen Risikowahrnehmung kann auch auf den innerbetrieblichen Arbeitsschutz übertragen werden. Denn auch hier kommen den Beweggründen für menschliches Verhalten eine hohe Relevanz zu. Das gilt insbesondere für den industriellen Sektor, der sich häufig durch die Nutzung gefährlicher Anlagen und Gefahrstoffe auszeichnet, so dass die Folgen verheerend sein können.
Die vorliegende Hausarbeit soll die Relevanz der Risikohomöostase im Rahmen des Arbeitsschutzes aufzeigen.
Zur Einführung in die Thematik soll zunächst der gesetzlich geregelte Arbeitsschutz in seinen Grundzügen unter Beschreibung der Schutzziele und der Risikoanalyse erläutert werden. Anschließend wird auf die Human Factors als Fehlerquelle eingegangen. Kapitel 4 thematisiert die Risikohomöostase und zeigt dabei Ursachen der Gefahrerhöhung und Maßnahmen zur Einschränkung dieser auf.
2 Risiken und Schutzziele im Arbeitsschutz
2.1 Schutzziele
Die allgemeinen Schutzziele der Arbeitssicherheit finden sich zunächst zusammengefasst im Arbeitsschutzgesetz (ASchG). Hier heißt es in § 1 Abs. 1, dass die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern ist. Weiter legt § 3 des ASchG fest, dass es sich hierbei um eine Grundpflicht des Arbeitgebers handelt. Die Schutzziele bilden dabei die körperliche und psychische Unversehrtheit der Beteiligten.
Aufgabe der Arbeitssicherheit ist es folglich, Sicherheitssysteme zu etablieren, die die Mitarbeiter vor Gefahren, Unfällen, Krankheiten oder sonstigen Beeinträchtigungen schützen (Schaper, 2014).
Die Ursachen der den Schutzzielen gegenüberstehenden Risiken lassen sich in drei Kategorien einteilen (Schaper, 2014):
Die traditionelle Vorgehensweise zur Risikominimierung im Arbeitsschutz sieht vor, dass mithilfe eines PDCA- Zyklus (Plan-Do-Check-Act) Risiken und Gefahren im Arbeitsumfeld zunächst erkannt und analysiert werden, bevor mithilfe entsprechender Schutzmaßnahmen ihr Eintritt minimiert oder eliminiert wird (Einhaus et al., 2017). Dieser Ablauf ist in Form der „Gefährdungsbeurteilung“ auch gesetzlich in § 5 ASchG festgelegt. Dabei folgt die Implementierung der Schutzmaßnahmen einer Priorisierung, bei der zunächst technische, dann organisatorische und anschließend personenbezogene Maßnahmen zu treffen sind (Einhaus, et al., 2017).
2.2 Risiken und Risikoanalyse
Wesentlich für die Findung und Einführung der geeigneten Maßnahmen zur Verhinderung einer Beeinträchtigung der Schutzmaßnahmen ist die Risikoanalyse.
Der Begriff Risiko lässt sich definieren als „die Möglichkeit einer negativen Abweichung zwischen Plan und Wirklichkeit, die Gefahr des Misslingens einer geplanten Leistung“ (Schmitt, et al., 2010). Das Risiko beinhaltet demnach die Möglichkeit, dass sich aufgrund eines Störprozesses die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadensereignisses erhöht (Einhaus et al., 2017). Die Risikoanalyse hat die Aufgabe, den Hergang, die Ursachen und die Folgen eines Unfallereignisses zu finden und zu beschreiben (Schaper, 2014). Im Verlauf der Analyse werden vorhandene Risiken anschließend in drei Gruppen klassifiziert. Diese Einteilung gibt die Priorisierung der Einführung und Umsetzung spezifischer Schutzmaßnahmen vor:
Abbildung 1: Risikoklassifizierung, Einhaus et al., 2017, Seite 28
Die Risikoanalyse bildet das wesentliche Element zur Erfüllung des Anspruchs der Arbeitssicherheit. Erst die Erkenntnis über unfallverursachende Faktoren ermöglicht es diesen entgegenzusteuern. Während die Ermittlung technischer und organisatorischer Faktoren aufgrund ihrer objektiven Erkennbarkeit gelingen kann, zeigt sich jedoch die Ermittlung der personenbezogenen Unfallursachen als schwierig. Diese umfassen unter anderem auch das sicherheitskritische Verhalten des Einzelnen während der Ausübung seiner Tätigkeit (Schaper, 2014). Das bedeutet, dass die individuelle Handlung des Einzelnen in der Art auf das Arbeitsumfeld einwirkt, dass gefährliche Situationen entstehen und Unfälle verursacht werden. Durch seine eigene Risikowahrnehmung in Kombination mit seiner Risikoakzeptanz, welche seine Entscheidung zwischen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten beeinflusst, können folglich bereits implementierte Sicherheitsmaßnahmen umgangen werden (Dorndings). Dabei können unterschiedliche Faktoren auf die Handlung einwirken, so z.B. Zeitdruck, Mangel an Aufmerksamkeit oder Ressourcen, Ermüdung und viele mehr.
Diese Beeinflussungen lassen sich vor allem den Human Factors zuordnen. Im nachfolgenden Abschnitt sollen diese erläutert werden, um eine Grundlage für die Erläuterung des Risikohomöostase- Modells zu schaffen.
3 Betrachtung der Human Factors als gefahrerhöhender Einfluss
Entscheidend für die Beurteilung des Risikos im Arbeitsschutz ist die Frage, welche Faktoren überhaupt einen gefahrerhöhenden Einfluss haben können. Eine dahingehende Analyse muss sämtliche Ereignisse und Bedingungen, die bereits zu einem Unfall geführt haben, berücksichtigen und bewerten. Unter Betrachtung der fortschreitenden Verbesserung des technischen und organisatorischen Arbeitsschutzes, z.B. durch fortlaufende Optimierung der Anlagen, Werkzeuge und anderer physischer Ressourcen, sowie der Verpflichtungen zu Schulungen und Unterweisungen durch unterschiedliche Qualitätsmanagementsysteme, zeigt sich dennoch, dass der Mensch nach wie vor den größten Verursacher von Unfällen darstellt. So sind ca. 80 % aller Unfälle auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen (Schaper, 2014).
Damit ist eine Betrachtung des Human Factors im Rahmen der Risikoanalyse notwendig. Hierbei handelt es sich nach Badke-Schaub, Hofinger und Lauche um
„[…] alle psychischen, physischen, und sozialen Charakteristika des Menschen, insofern sie das das Handeln in und mit soziotechnischen Systemen beeinflussen oder beeinflusst werden“ (Seite 4).
Diese Definition zeigt, dass sich der Mensch und die Technik in einer stetigen Wechselwirkung zueinander befinden. Eine Analyse des Human Factors bedeutet demnach, sowohl die Einflüsse zu ermitteln, die auf den Menschen wirken, als auch diejenigen, die vom Menschen ausgehend seine Umwelt und damit gewisse Abläufe veranlassen. Bei letzterem steht folglich das Bewusstsein des Einzelnen im Vordergrund, welches sich vor allem in seinem Verantwortungsbewusstsein, der Arbeitsbelastung, Stress oder auch der Motivation zeigt (Hinsch et al., 2019).
Im Rahmen einer arbeitsschutzbezogenen Risikoanalyse ist die Berücksichtigung dieser Faktoren wesentlicher Bestandteil. So müssen Arbeitsschutzmaßnahmen auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter ausgerichtet sein, ihre Leistungsfähigkeiten und –grenzen kennen und die Verantwortlichkeiten entsprechend dessen verteilen. Weiterhin sind die Mitarbeiter und ihre sozialen Einflüsse in die Überlegungen und Strukturen miteinzubeziehen (Hinsch, 2010). Denn: selbst im Falle einer optimierten technischen und organisatorischen Maßnahmenstruktur zur Verhinderung von Unfällen obliegt die tatsächliche Ausführung der Tätigkeit einer Person – die jedoch innerhalb und außerhalb ihres Arbeitsumfeldes durch diverse andere Aspekte beeinflusst werden kann. Steht beispielsweise die Abnahme eines großen Auftrages an, bei dem Überstunden notwendig sind, um das Produkt rechtzeitig fertigzustellen, bedeutet dies für die Betroffenen Zeitdruck. Kommt ergänzend hinzu, dass einer der Beteiligten seine Kinder rechtzeitig von der Schule abholen muss, erhöht sich dieser Druck umso mehr – es entsteht eine Situation, in welcher Sicherheit nur noch sekundäres Ziel ist und es vielmehr darum geht, die Risiken dahingehend abzuwägen, inwiefern durch einen größeren Spielraum beide Ziele erfüllt werden können. Dieses Beispiel soll aufzeigen, dass es sich bei der Notwendigkeit der Betrachtung dieser Fehlerquellen nicht um abstrakte wissenschaftliche Gefahren handelt, sondern als einen Teil des Arbeitsschutzes, welcher eine reale Gefahr darstellen kann, nicht nur für den Handelnden, sondern auch für alle um ihn herum.
Der aus einem solchen Umstand resultierende Fehler wird als „Human Error“ bezeichnet (Hinsch. 2010). Im Zusammenhang mit der Luftfahrtforschung wurden diesbezüglich die 12 häufigsten Gründe, die einen Human Error begünstigen, als Dirty Dozen zusammengefasst (Hinsch, 2010):
- Mangel an Kommunikation
- Mangel an Teamwork
- Mangel an Aufmerksamkeit
- Stress
- Mangel an Ressourcen
- Ermüdung & Erschöpfung
- Soziale Normen
- Druck
- Mangel an Können & Wissen
- Fehlende Durchsetzungsfähigkeit
- Selbstgefälligkeit
- Ablenkung durch private Probleme oder suboptimale Arbeitsumgebung.
All diese Bedingungen können zu bewussten oder unbewussten Fehlern („Errors“) durch ausübende Personen führen (Hinsch et al., 2019). Auf die einzelnen Elemente und ihre Auswirkungen soll im Rahmen dieser Hausarbeit wegen des begrenzten Umfangs nicht eingegangen werden. Da es sich bei der Risikohomöostase jedoch um ein Phänomen handelt, welches die Risikoakzeptanz des Einzelnen auf der Grundlage einer individuellen Kosten-/Nutzen-Abwägung erhöhen kann, sollen im Folgenden kurz die Ursachen Mangel an Aufmerksamkeit, Stress, Druck und Ablenkung durch private Probleme erläutert werden, da sich diese insbesondere auf die Wahrnehmungsfähigkeit während der Tätigkeit ausüben und eine Nichtbeachtung des Risikopotentials zur Folge haben. So hält auch Nerdinger fest,
„dass die individuelle Wahrnehmung eines Reizes, dessen Verarbeitung und Bewertung, entscheidend für die darauf folgende Reaktion ist.“ (Schaper, 2014, Seite 323)
Die Faktoren Stress und Druck zeichnen sich dadurch aus, dass sie vor allem durch negative Reize aus dem Umfeld resultieren. Diese Belastungsfaktoren führen in der Regel zu einer Senkung der Aufmerksamkeit und einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit (Hinsch et al., 2019). Weiterhin wird durch Druck der Focus enorm auf das zu erreichende Ziel verlagert, so dass die Wahrnehmung der Umgebung nur noch notdürftig erfolgt. Die Folge kann ein „Tunnel- Blick“ sein, der verhindert, dass risikobegünstigende Sachverhalte überhaupt als solche erkannt und berücksichtigt werden (Hinsch, et al., 2019). Ähnlich verhält es sich mit einem Mangel an Aufmerksamkeit, welcher sich häufig in einem fehlenden Problembewusstsein äußert. Da der Handelnde dabei die Tätigkeit unüberlegt ausübt, ist er sich auch hier der Risikopotentiale nicht bewusst und es kommt zu unbewussten Fehlern (Schaper, 2014). Wie wichtig eine Fokussierung auf den eigenen Tätigkeitsbereich ist, zeigt auch die Ursache Ablenkung, bei der es sich um eine Störung der Fokussierung durch interne oder externe Faktoren handelt. Wird jemand während seiner Tätigkeit beispielsweise durch einen weiteren Mitarbeiter unterbrochen oder beschäftigen ihn private Gedanken, so erfolgt die Erledigung der Aufgabe in der Regel ohne das erforderliche Bewusstsein für mit ihr verbundene Gefahren (Hinsch, 2010).
So zeigt sich, dass eine Betrachtung der Human Factors im Rahmen der Risikoanalyse, insbesondere im industriellen Sektor, eine unbedingte Notwendigkeit darstellt. Das Risikobewusstsein des Einzelnen und seine individuelle Wahrnehmung tragen enorm zu einer sicheren Arbeitsumgebung, für sich selbst und für andere, bei.
Der nachfolgende Abschnitt soll nun die Risikohomöostase erläutern und zeigen, inwiefern die Risikowahrnehmung ursächlich für Human Errors im Rahmen von Arbeitsschutzmaßnahmen sein können.
4 Die Risikohomöostase als gefahrerhöhendes Element im Arbeitsumfeld
Die Risikohomöostase bezeichnet ein Phänomen, welches zu einem Ausgleich zwischen dem vorhandenen Risiko und der darauf basierenden Handlung führt. Die Entscheidung für eine Handlung wird demnach so getroffen, dass im Vorfeld das vorhandene Risiko mit den eigenen Kompetenzen abgewogen wird und es so zu einer balancierten Handlung kommt, die ohne negative Konsequenzen bleibt (Dornhöfer, 2000). Die Homöostase kann jedoch insofern problematisch ablaufen, als dass technische Sicherheitselemente die Risikobereitschaft des Einzelnen fördern können und es somit zu einer Verschiebung des Gleichgewichtes zwischen wahrgenommenem und tatsächlichem Risiko kommt, welche zwangsläufig zu einer Steigerung von Unfällen führt (https://www.hsu-hh.de/wenn-sicherheit-gefaehrlich-wird-risikohomoeostase).
Die Forschung der Risikohomöostase befasst sich vor allem mit Unfallursachen im Straßenverkehr (Dornhöfer, 2000). Wilde fasste dies in einem Modell zusammen, welches das Risikoverhalten von Individuen bei ihrer Teilnahme im Straßenverkehr erklären sollte. Dieses versucht, die Risikowahrnehmung und -einschätzung des beteiligten Individuums mit seiner eigenen Risikoakzeptanz zu verbinden und so die resultierende Unfallrate zu erklären (Lenk, 2015). Im Ergebnis kann, so Wilde, der Wegfall eines offensichtlichen Risikoelementes zu einer gefahrerhöhenden Handlung durch den Einzelnen führen, indem dieser ein weniger akutes Risiko unterschätzt. Für den Arbeitsschutz bedeutet dies, dass gewisse Sicherheitsmaßnahmen zwar Gefahren auf der einen Seite minimieren, jedoch aufgrund des dadurch entstehenden Sicherheitsgefühls in Verbindung mit fehlendem Bewusstsein für andere Gefahren sich ein zuvor minimiertes Risiko dennoch erfüllt.
In einer Studie von Rabe, Gericke und Trimpop aus dem Jahr 2006, welche die Ursachen von Wegeunfällen mithilfe einer Befragung analysiert, lag die Anzahl der Wegeunfälle bei ca. 15 % der gesamten meldepflichtigen Unfälle mit einem Anteil von 26 % der resultierenden Unfallrenten (Rabe et al., 2006). Heutige Statistiken zeichnen dasselbe Bild, so liegt die Quote der Wegeunfälle heute bei ca. 18 % mit einem Anteil von 25 % der resultierenden Renten (https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/au-wu-geschehen/index.jsp). Die Ursachen dieser trotz zahlreicher technischer Verbesserungen und sicherheitserhöhender Komponenten konstant bleibenden Zahlen können sich folglich nur im Risikoverhalten des Einzelnen zeigen. Die theoretischen und praktischen Grundlagen lassen sich auch auf den betriebsinternen Arbeitsschutz übertragen, denn auch hier obliegt die finale Entscheidung für eine Handlungsoption der ausführenden Person und ist somit durch sie beeinflusst. Folglich müssen auch hier die Risikowahrnehmung und das Risikobewusstsein näher betrachtet werden.
Diese werden auch durch die vorher genannten und erläuterten Human Factors gesteuert, da sich in genannter Studie ebenfalls die Faktoren Stress, Zeitdruck und Ablenkung als besonders risikosteigernd gezeigt haben (Rabe et al., 2006).
Nachfolgend sollen zunächst die relevanten Begriffe Risikohomöostase, Risikowahrnehmung und Risikobewusstsein erläutert werden, um anschließend die Ursachen und Folgen zu erläutern.
4.1 Begriffserklärungen
Das Risikohomöostase- Modell nach Wilde verbindet subjektive und objektive Faktoren, die den Handelnden betreffen, miteinander und versucht damit eine Risikoerhöhung, z.B. eine gesteigerte Unfallrate zu erklären. Entscheidend für die resultierende Tätigkeit, sei neben den objektiv vorhandenen Fähigkeiten und der Wahrnehmung des tatsächlich vorhandenen Risikos durch den Einzelnen auch seine eigene, subjektive Abwägung des akzeptierten Risikos wesentlich (Dornhöfer et al., 2000). Das Modell fasst die Theorie wie folgt zusammen:
Abbildung 2: Risikohomöostase-Modell (Lenk, 2015, nach Wilde (1982)
Wilde unterscheidet grundsätzlich zwischen objektiven und subjektiven Risikoelementen, die die Tätigkeit bestimmen. Diese werden regelmäßig gegeneinander abgewogen, um sich für diejenige Handlungsalternative zu entscheiden, die den größten Nutzen für die handelnde Person hervorbringen. Dabei bildet das durch den Handelnden akzeptierte Risiko in Verbindung mit dem angestrebten Nutzen die Grundlage der Überlegung (Dornhöfer et al., 2000). Das bedeutet, dass der Handelnde das vorhandene Risiko nicht nur wahrnimmt, sondern auch in Kauf nimmt. Durch die Tätigkeit wird jedoch angestrebt, dass sich das wahrgenommene Risiko mit dem akzeptierten Risiko deckt (Dornhöfer et al., 2000).
Der Entscheidungsprozess nach dem Risikohomöostase- Modell setzt grundsätzlich voraus, dass die Entscheidung für die Tätigkeit durch die Risikowahrnehmung und das Risikobewusstsein geprägt ist.
Die Risikowahrnehmung kann auch als das Erkennen von Gefahren bezeichnet werden (Schaper, 2014). Sie bildet den ersten Einfluss auf die Handlungsentscheidung. Die Wahrnehmung von Gefahren unterliegt dabei einem kognitionspsychologischen Prozess, bei dem externe Signale durch den Handelnden gefiltert werden und sich daraus für ihn individuell Hinweise auf mögliche Gefahren ergeben (Schaper, 2014). Das zeigt, dass es sich bei der Risikowahrnehmung um einen rein individuellen Mechanismus handelt, der durch die subjektiven Erfahrungen, Charakteristika, Selbsteinschätzung, Umgebungseinflüsse und vor allem Motivationen des Beurteilenden beherrscht wird. So wird ein Rennfahrer das Risiko einer Serpentinenstraße das Risiko anders beurteilen als jemand, der gelegentlich Ausflüge mit dem PKW unternimmt. Das Risiko wird anschließend beurteilt und es findet eine Orientierung statt (Schaper, 2014). Hierbei handelt es sich um das Risikobewusstsein oder auch die Risikobewertung, welche ebenfalls hauptsächlich durch subjektive Parameter beeinflusst werden.
4.2 Ursachen der Gefahrerhöhung durch Risikohomöostase im Arbeitsumfeld
Die Forschung hinsichtlich der Risikohomöostase bezieht sich bislang hauptsächlich auf die Beurteilung von psychologischen Ursachen für Unfälle im Straßenverkehr. Es ist jedoch unter Berücksichtigung der wesentlichen Einflüsse auf die Handlungsentscheidung erkennbar, dass diese theoretischen Ansätze auf den Arbeitsschutz insgesamt angewendet werden können und auch sollten. Demnach sollen nachfolgend sollen die Ursachen und Folgen der Risikohomöostase im Bereich des Arbeitsschutzes erläutert werden.
Zur Erklärung des Modells und der Entscheidungsfindung ist davon auszugehen, dass der Mensch bei gewissen Tätigkeiten, in Wildes Modell bei der Teilnahme am Straßenverkehr, unvermeidbar gewissen Risiken ausgesetzt ist. Gleichzeitig versucht er permanent, einen Ausgleich zwischen dem von ihm akzeptierten und dem wahrgenommenen Risiko herzustellen. Dabei ist das subjektiv akzeptierte Risiko laut Dornhöfer und Pannasch (2000) durch 4 Kriterien beeinflusst, die sich nach der Relation zwischen Vor- und Nachteilen auf der einen Seite und Kosten/Nutzen auf der anderen Seite richten:
- Es wird durch das riskante Verhalten ein angestrebter Nutzen erwartet, beispielsweise schnelleres Fertigstellen der Tätigkeit
- Es werden auf der Grundlage riskanten Verhaltens zu vermeidende Kosten erwartet, beispielsweise das Herunterfallen von einem Gerüst
- Es wird ein angestrebter Vorteil bei sicherem Verhalten erwartet, beispielsweise ein Bonus
- Es werden Nachteile durch sicheres Verhalten erwartet, beispielsweise weniger Flexibilität beim Tragen eines Schutzanzuges.
Auf Grundlage dieser vier grundsätzlichen Überlegungen findet folglich fortwährend eine Abwägung zwischen den eigenen Einflüssen und dem tatsächlich wahrgenommenen Risiko statt. Da es sich hierbei um eine stark subjektiv geprägte Einschätzung handelt, kann diese im Arbeitsumfeld zu Fehlentscheidungen führen. Wie bereits erwähnt, spielen die genannten Ursachen der Human Factors eine große Rolle bei der Wahl der Handlungsalternative. So ist insbesondere das erste Kriterium stark von diesen Faktoren betroffen: steht jemand unter enormem Zeitdruck, ist er eher bereit, riskantes Verhalten einzugehen, da der angestrebte Nutzen der Zeitersparnis das Risiko ausblendet oder wenigstens in der eigenen Wahrnehmung relativiert. Ähnlich zeigt sich die Wirkung bei Tätigkeiten unter Stress. Nerdinger hält ergänzend fest, dass sicherheitswidriges Verhalten, d.h. Verhalten unter Inkaufnahme eines erweiterten Risikos, nicht zwangsläufig zu negativen Konsequenzen führt und damit positiv in den Erfahrungsschatz des Handelnden übergeht (Schaper, 2014). Im Ergebnis tritt somit der erwartete und erwünschte Nutzen ein, die negative Erfahrung bleibt jedoch aus. Insbesondere im Arbeitsschutz, der durch viele technische Maßnahmen zur Unfallverhütung geprägt ist, kann im Rahmen der Abwägung zwischen den Kosten und dem Nutzen der beabsichtigten Handlung hierdurch schnell das Gefühl entstehen, sicherheitsrelevante Aspekte haben einen ausbremsenden Charakter.
Durch die Inkaufnahme eines Risikos entsteht gleichzeitig eine Gefahrenerhöhung bei Ausübung der Tätigkeit, da sie zu einem spezifischen Fokus gerichtet auf solche Risiken führt, die für die Abwägung der individuellen Akzeptanztoleranz relevant sind, dabei jedoch andere Risiken außer Acht lässt und diese somit keinen Einfluss auf die subjektive Wahrnehmung haben und damit auch nicht auf die ausgeübte Tätigkeit wirken.
Da die Risikohomöostase ein ausgleichendes Element darstellt, bei dem stets versucht wird, ein Gleichgewicht zwischen dem wahrgenommenen Risiko und der eigenen Handlung zu finden, kann auch eine erhöhte Sicherheit im Umfeld zu einer höheren Risikobereitschaft führen und damit unfallverursachend wirken. Dieser Effekt kann sich vor allem im innerbetrieblichen Arbeitsschutz zeigen. So hält auch Nerdinger fest, dass
„zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen in „Anpassungsreaktionen“ resultieren, die ein risikoreicheres Verhalten unter „sicheren“ Bedingungen erlauben“ (Schaper, 2014, S. 500).
Das heißt, dass bestimmte Elemente, die ein Risiko minimieren, ein Gefühl von Sicherheit entstehen lassen, dass den Handelnden dazu bewegt ein höheres Risiko zu akzeptieren. Als Beispiel seien hier Sicherheitsschuhe genannt. Das Tragen dieser impliziert, dass eine gewisse Gefahr abgewehrt werden kann. Diese Empfindung kann den Träger jedoch dazu verleiten, in eine durch Gefahrstoffe verseuchte Grube zu treten und ihn dabei anderen Gefahren aussetzen. Dies lässt sich auch anhand der Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle der letzten 15 Jahre erkennen. Hier hat es kaum eine Veränderung gegeben – trotz fortschreitender Technisierung und Digitalisierung sowie weitreichender Implementierung von immer neuen Schutzmechanismen und Managementsysteme zur Gewährleistung der Sicherheit im industriellen Sektor aufgrund neuer Vorschriften oder neuer Erkenntnisse (DGUV- Statistiken für die Praxis 2020).
Eine weitere Ursache für die Akzeptanz eines höheren Risikos und damit die Begünstigung eines Fehlers, ist die sich selbst unterstellte Kontrollierbarkeit einer Situation. Empfindet der Handelnde, dass er die Situation und die damit einhergehenden Gefahren beherrschen kann, ist er ebenfalls eher gewillt, ein höheres Risiko in Kauf zu nehmen (Dornhöfer et al., 2000).
Nachdem nun die Ursachen und Folgen für eine Gefahrenerhöhung durch die Risikohomöostase genannt wurden, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, mithilfe welcher Maßnahmen die negativen Folgen eingeschränkt werden können.
5 Maßnahmenfindung zur Einschränkung der Gefahrerhöhung durch Risikohomöostase
Wie bereits erläutert, zeichnet sich die Risikohomöostase dadurch aus, dass der Mensch durch eine eigene Abwägung zwischen dem wahrgenommenen Risiko und seiner eigenen Risikoakzeptanz, welche individuell durch seine temporären Kosten und Nutzen geprägt ist, versucht, sich für eine Handlungsoption zu entscheiden, welche zu einem Gleichgewicht führt.
Maßnahmen zu Verhinderung einer Gefahrenerhöhung, die durch diese Abwägung verursacht wird, müssen demnach auch bei der individuellen Motivation ansetzen. Dabei ist auch der in diesem Zeitpunkt vorhandene, die Person beeinflussende Human Factor zu berücksichtigen.
Hierbei handelt es sich um eine sehr komplexe Aufgabe. Arbeitsschutzmaßnahmen sind in der Regel in der Art gestaltet, dass sie für eine Vielzahl von Situationen und Personen gelten und zugleich übertragbar sein sollen. Demnach muss für die Entwicklung von Maßnahmen ebenfalls ein allgemein gültiger Konsens gefunden werden. Auf der anderen Seite ist die psychologische Entscheidungsfindung stark durch Subjektivität geprägt. So kann der Faktor Stress sowohl unterschiedliche Ursachen haben, als auch unterschiedliche Wirkungen entfalten. Zum jetzigen Zeitpunkt kann folglich nur auf Studien zurückgegriffen werden, die die häufigsten psychologischen Ursachen für Unfälle im Arbeitsumfeld untersucht haben. Dabei fassen Dornhöfer et al. zusammen, dass sich zumindest personenbezogene Gemeinsamkeiten herleiten lassen, auf die im Rahmen der Arbeitsschutzmaßnahmen spezifisch eingegangen werden kann. So zeigen sich voneinander abweichende Tendenzen bei folgenden Personengruppen:
- Unterschiedliches Alter: jüngere Fahrer tendierten zu einer höheren Risikobereitschaft, während ältere Fahrer erst dann gefahrerhöhende Entscheidungen treffen, wenn sie in schwierigen Situationen schnell handeln müssen
- Kulturelle Unterschiede: unterschiedliche Verkehrspolitik in verschiedenen Ländern können zu einer differenzierten Wahrnehmung von Gefahr führen. Hieraus lässt sich schließen, dass die allgemeine Sozialisation eine wichtige Rolle einnimmt.
- Unterschiedliches Geschlecht: eine Studie aus dem Jahr 1973 von Ebbeson und Haney kommt zu dem Ergebnis, dass Männer über eine höhere Risikoakzeptanz verfügen als Frauen.
Diese Zusammenfassung kann durch die Ergebnisse von Rabe et al. aus 2006 noch ergänzt werden durch:
- Berufsanfänger: hier zeigt sich eine geringere Belastbarkeit und damit eine höhere Empfänglichkeit für Druck und Stress
- Eltern: diese seien durch einen höheren Workload im privaten Bereich tendenziell eher unter Zeitdruck und abgelenkt.
Auch wenn die Ergebnisse alle aus Studien zur Verkehrssicherheit stammen, sollten sie als Ansatz für die konkrete Festlegung spezifischer Maßnahmen zur Risikominimierung sein, da die die Person umgebenden Elemente häufig deckungsgleich sind.
Die Einteilung zeigt, dass bei der Ermittlung von sachgerechten Schutzmaßnahmen eine komplexe Analyse stattfinden muss, die dem jeweils beabsichtigten Nutzen und den zu vermeidenden Kosten Rechnung trägt. So sollten Überlegungen hinsichtlich der Schutzmaßnahmen auch das soziale Umfeld, das Geschlecht, die Herkunft und die Motivationen der Gruppe berücksichtigen. Auch wenn es sich hier um eine komplexe Aufgabe handelt, können Gefahren durch die Risikohomöostase nur auf diese Weise verhindert werden.
Dabei müssen sowohl intrinsische Motive des Einzelnen als auch extrinsische bedacht und gesteuert werden. Die intrinsischen Motive wie die Absicht, schnell fertig zu werden, schnell nach Hause zu kommen, möglichst viel in kurzer Zeit zu schaffen, könnten durch eine extrinsische Motivation in positive Motive umgewandelt werden. Um dies zu gewährleisten, sollten spezifisch für die jeweilige Personengruppe Elemente gefunden werden, die die Motivation umkehrt. Hierzu stellen Rabe et al. fest, dass beispielsweise betrieblich-organisatorische Maßnahmen für Eltern geschaffen werden könnten, um den Zeitdruck zu minimieren. Zu denken wäre hier an eine innerbetriebliche Kinderbetreuung, flexiblere Arbeitszeiten oder generell einer Erweiterung der Möglichkeit des mobilen Arbeitens. Zugleich wird vorgeschlagen, die Höhe der Belastung für Berufsanfänger zu reduzieren, um sich besser einfinden zu können.
Generell sollten Schutzmaßnahmen darauf abzielen, mehr auf die Charakteristika des Einzelnen einzugehen und diese direkt zu adressieren. Eine negative Risikohomöostase kann nur verhindert werden, indem die Human Factors des Einzelnen in den Fokus treten. Deshalb kann die Implementierung von Arbeitsschutzmaßnahmen nur dann erfolgen und aussichtsreich wirken, wenn insgesamt eine Sicherheitskultur im Unternehmen etabliert wird, die jeden Mitarbeiter für vorhandene Risiken, auch bei sich und Kollegen, sensibilisiert. Diese basiert auf einem Normenkonsens aller Mitarbeiter und dient dazu die Sicherheit für alle zu erhöhen (Schaper, 2014). Demnach handelt es sich hierbei um eine gemeinschaftliche Aufgabe, die jeden adressiert, aber auch die Beteiligung von jedem fordert. Im Ergebnis sollte eine Kultur des Vertrauens geschaffen werden, die es erlaubt, auf die Bedürfnisse und Hemmnisse des Einzelnen einzugehen. Dazu können Transparenz und ein gerechtes Sanktionensystem beitragen (Schaper, 2014). Die Sicherheitsmaßnahmen müssen folglich für jeden erkennbar und zugängig sein.
Die Schaffung einer solchen Umgebung muss dabei der obersten Führung obliegen, da die Motivation insbesondere durch diese Vorbildfunktion gestärkt werden kann. Zudem sollte diese offen für den Bedarf der Mitarbeiter sein und ebenfalls empathisch auf die Erfordernisse für die einzelnen Personengruppen eingehen. Auch hinsichtlich eines Umgangs mit den Human Factors ist die Etablierung einer solchen Kultur unerlässlich. Einer Verbreitung und Verankerung von Human Errors kann nur entgegengetreten werden, wenn ein neues Risikobewusstsein entsteht. Dazu gehört auch, dass der Einzelne darin bestärkt wird, über eigene Schwierigkeiten zu sprechen und erkennbare Hemmnisse bei anderen anzusprechen. Dies kann nur gelingen, wenn Fehler nicht mehr als absolutes Scheitern betrachtet werden, sondern als wichtiger Beitrag zum Lernprozess und der Stärkung des Teams.
6 Fazit
Die Arbeit hat gezeigt, dass die subjektiven Faktoren, die zu einer Risikohomöostase beitragen, eine wesentliche Relevanz für die Wirkung von Sicherheitsmaßnahmen im Arbeitsumfeld haben. Die eine gefahrerhöhende Handlungsentscheidung begünstigenden Human Factors müssen im Rahmen der Risikoanalyse berücksichtigt werden.
Auch wenn die Forschung hinsichtlich der Risikohomöostase sich hauptsächlich auf begünstigende Risiken im Verkehr konzentriert, lassen sich dennoch die grundsätzlichen Erkenntnisse auf den innerbetrieblichen Arbeitsschutz übertragen und sollten hier auch Anwendung finden.
Dennoch steckt hier noch immenses Forschungspotential. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Motivation des Einzelnen, sein soziales Umfeld, die ihn belastenden oder auch begeisternden Aspekte aus seinem privaten und beruflichen Bereich eine große Rolle bei der Gestaltung und Ausführung seiner Arbeit spielen. Dies gilt ebenso für das individuelle Risikobewusstsein und die Risikowahrnehmung, die ebenfalls durch diese Faktoren beeinflusst werden.
Die vorliegende Arbeit konnte aufgrund ihres begrenzten Umfangs die Zusammenhänge und die wichtigsten Aspekte nur anreißen. Dabei wurde beabsichtigt, den aktuellen Forschungsstand darzulegen und einen Impuls für weitere Ansätze zu Untersuchungen zu geben.