Fachartikel – Stand: Herbst 2025
Kurzfazit
Tödliche Arbeitsunfälle sind in Deutschland langfristig rückläufig, konzentrieren sich aber weiterhin auf einige wenige Unfallarten und Branchen. 2024 wurden in der gesetzlichen Unfallversicherung 307 tödliche Arbeitsunfälle erfasst; hinzu kamen 214 tödliche Wegeunfälle. Die meldepflichtigen Arbeitsunfälle sanken auf 712.257, die Unfallquote auf 20,61 je 1.000 Vollzeitäquivalente. Absturz/Absturzfolgen, Einwirkungen von Fahrzeugen/Flurförderzeugen und Quetsch-/Einsturzereignisse sind die Haupttreiber – im Bau sogar mit klarer Dominanz des Absturzes. Konsequente Anwendung der Rangfolge der Schutzmaßnahmen (STOP), robuste Verkehrs- und Absturzkonzepte nach TRBS 2121 sowie ein ernst gemeintes Führungs‑ und Kulturprogramm („Vision Zero“) sind die wirksamsten Hebel.
1. Begriffe, Meldepflicht, Abgrenzungen
- Arbeitsunfall (§ 8 SGB VII): zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit (einschließlich Homeoffice in gleichem Umfang wie im Betrieb). Wegeunfälle sind die unmittelbaren Wege von und zur Arbeitsstätte.
- Meldepflicht (§ 193 SGB VII): Anzeige, wenn Versicherte getötet werden oder mehr als drei Kalendertage arbeitsunfähig sind.
- Statistische Zählung „tödlich“: Erfasst werden Fälle, in denen der Tod binnen 30 Tagen nach dem Unfall eintritt.
2. Lagebild Deutschland – Zahlen und Trends
- 2024 (vorläufig, DGUV): 712.257 meldepflichtige Arbeitsunfälle, 9.405 neue Unfallrenten, 307 tödliche Arbeitsunfälle; Unfallquote 20,61 je 1.000 VZÄ.
- 2023 (abschließend): 381 tödliche Arbeitsunfälle und 218 tödliche Wegeunfälle – beides historische Tiefstände. Branchenbezogen traten die meisten tödlichen Arbeitsunfälle bei BG Verkehr (77), BG BAU (76) und VBG (67) auf.
- Vertiefung 2023 (Methodik, Definitionen, Branchenübersichten): siehe DGUV-Statistiken für die Praxis 2023 sowie Arbeitsunfallgeschehen 2023.
- Langfristiger Kontext: Anteil Männer an tödlichen Unfällen bleibt sehr hoch (2022: ~92 %).
- Hinweis zur Datenbasis: Die DGUV weist zusätzlich das Arbeits- und Wegeunfallgeschehen für den Bereich „UV der gewerblichen Wirtschaft und UV der öffentlichen Hand“ aus; dort unterscheiden sich Summen/Quoten aufgrund des Zuschnitts leicht von der Gesamtkommunikation. 2024: 754.660 meldepflichtige Arbeitsunfälle, Quote 17,27/1.000 VZÄ; 345 tödliche Arbeitsunfälle. Das ist konsistent, aber ein anderer Bezugsraum.
3. Wo sterben Menschen bei der Arbeit? – Mechanismen und Branchenbilder
3.1 Dominierende Unfallarten (branchenübergreifend)
- Absturz/Absturzdurchbruch (Dach, Gerüst, Öffnungen).
- Angefahren/Überfahren – innerbetrieblicher Verkehr (Stapler, Lkw, bewegte Lasten).
- Herabfallende/kippende Teile; Einsturz/Umsturz.
- Kontakt mit bewegten Maschinenteilen; Elektrizität; Ertrinken/Ersticken – zahlenmäßig geringer, aber mit hoher Letalität.
Diese Muster sind international stabil: UK‑Daten zeigen seit Jahren die Spitze „Sturz aus der Höhe“, „bewegte Fahrzeuge/Objekte“, „Einsturz/Umkippen“, „Maschinenkontakt“ und „Elektrizität“. Das stützt die Fokussierung auf wenige Hochenergie‑Risiken.
3.2 Bauwirtschaft (BG BAU)
- Unfallursachen tödlicher Arbeitsunfälle (BG BAU):
2023: Absturz 37 %, herabfallende/kippende Teile 32 %, Maschinen 7 %, angefahren/überfahren 8 %, Sonstiges 16 %.
2024: Absturz 36 %, herabfallende/kippende Teile 26 %, Maschinen 15 %, angefahren/überfahren 10 %, Sonstiges 13 %.
Das Bild ist eindeutig: Absturz dominiert. - Bedeutung der Bauwirtschaft insgesamt: ein erheblicher Anteil der tödlichen Arbeitsunfälle entfällt auf Baustellen – BAuA ordnet dem Thema Absturz seit Jahren den größten Anteil zu.
3.3 Verkehr/Logistik und öffentliche Hand
- Innerbetriebliche Transporte (Stapler, Rangieren) verursachen regelmäßig tödliche An- und Überfahrunfälle; kritische Muster sind fehlende Segregation von Fuß‑/Fahrwegen, Rückwärtsfahrten und eingeschränkte Sicht.
4. Warum passieren tödliche Unfälle? – Unmittelbare und systemische Ursachen
4.1 Unmittelbare Ursachen (Ereignis- und Gefährdungsebene)
- Höhenarbeiten ohne kollektive Absturzsicherung (unzureichende Gerüst-/Dachschutzmaßnahmen, nicht tragfähige Lichtkuppeln). Anforderungen und Mindeststandards sind in TRBS 2121 (allgemein) und TRBS 2121‑1 (Gerüste) klar beschrieben.
- Unzureichend geregelter innerbetrieblicher Verkehr (keine Trennung von Fuß‑ und Fahrverkehr, fehlende Geschwindigkeits-/Sicht‑Konzepte, Reversieren). Praxisleitfäden empfehlen konsequente Segregation und Vermeidung von Rückwärtsfahrten.
- Maschinen/Anlagen ohne wirksame Schutzeinrichtungen bzw. mit umgehbaren Schutzkonzepten; fehlerhafte Instandhaltung/Stillsetzungsprozesse (Lock‑out/Tag‑out). (Branchenspezifische DGUV‑Informationen illustrieren typische Gefahrenbilder.)
4.2 Systemische Ursachen (Organisations‑ und Führungsebene)
- Lücken in Gefährdungsbeurteilung und STOP‑Umsetzung: Gefahren werden nicht an der Quelle eliminiert, stattdessen verlässt man sich zu früh auf PSA. § 4 ArbSchG und die DGUV/BAuA‑Erläuterungen verlangen explizit die Rangfolge Substitution → Technisch → Organisatorisch → Persönlich.
- Führungs‑ und Sicherheitskultur: Laxer Umgang mit Regeln, fehlende Lernschleifen, Zeitdruck als akzeptierte „Bedingung“. Die DGUV fasst diese Hebel unter „Kultur der Prävention“ zusammen (Führung, Kommunikation, Beteiligung, Fehlerkultur, Betriebsklima, Sicherheit & Gesundheit).
- „Swiss‑Cheese“‑Logik: Tödliche Ereignisse entstehen, wenn mehrere Barrieren gleichzeitig versagen (aktive Fehler + latente Bedingungen). Das Modell nach James Reason beschreibt genau dieses Zusammenspiel.
4.3 Wegeunfälle – besonders schwere Schadensverläufe
Wegeunfälle sind relativ seltener als Arbeitsunfälle, aber überproportional schwer; 2023 kamen auf 1.000 neue Wegeunfallrenten deutlich mehr Todesfälle als auf 1.000 neue Arbeitsunfallrenten. Das erklärt, warum die Zahl tödlicher Wegeunfälle trotz Prävention hoch bleibt.
5. Was wirkt? – Maßnahmen mit nachweisbar größter Hebelwirkung
5.1 Absturzprävention (Bau und Instandhaltung)
- Planung vor Ausführung: Zugang/Absturzsicherungen als fester Bestandteil der Arbeitsvorbereitung (RAB 33; § 4 ArbSchG‑Grundsätze).
- TRBS 2121‑Serie konsequent umsetzen: Kollektive Sicherungen (z. B. Schutzgerüst, Seitenschutz, Auffangsysteme) haben Vorrang vor PSA. Tragfähigkeit von Dachflächen und Lichtkuppeln nachweisen/sichern.
- Substitution von Leitern als Arbeitsplatz durch Gerüste/Hubarbeitsbühnen, wenn die Tätigkeit nicht kurzzeitig ist.
5.2 Innerbetrieblicher Verkehr & Flurförderzeuge
- Segregation von Fuß‑ und Fahrverkehr durch feste Wege, Barrieren, getrennte Türen, definierte Querungen; Rückwärtsfahrten vermeiden, Einbahn‑Konzepte nutzen; Geschwindigkeiten und Sicht sicherstellen.
- Betriebserlaubnis & Befähigung für Staplerführende, technische Assistenzsysteme (Zonen‑/Personenwarnung) und klare Regeln für Be‑/Entladezonen.
5.3 Maschinen, Anlagen, Instandhaltung
- Sichere Bauart (Stand der Technik) + wirksame Betriebsorganisation (Sperren/Sichern, Freischalten, Prüfen vor Anlauf). Branchenspezifische DGUV‑Informationen liefern belastbare Checklisten.
5.4 STOP‑Prinzip ernst nehmen – nicht nur zitieren
- Substitution (gefährliche Verfahren/Arbeitsorte vermeiden), Technik (kollektiver Schutz), Organisation (Ablauf, Permit‑to‑Work, Freigaben), PSA (nur Restschutz). Das ist geltendes Recht und Prüfmaßstab für Aufsicht und Gerichte.
5.5 Führung & Kultur als Daueraufgabe („Vision Zero“)
- 7 Goldene Regeln der IVSS/DGUV liefern einen robusten Management‑Rahmen: Führung zeigen, Gefahren kennen und steuern, Ziele und Programme, Organisation, sichere Technik/Arbeitsplätze, Qualifikation, Beteiligung. Ergänzt um proaktive Indikatoren (Leading Indicators) zur Wirksamkeitskontrolle.
6. Typische Fehlstellen in Unternehmen (aus Fallanalysen abgeleitet)
- Planungslücken: Arbeitssicherheit wird erst „auf der Baustelle“ gedacht; keine frühzeitige Integration in Ausschreibung/Terminplanung.
- Regelkenntnis ≠ Regelumsetzung: TRBS 2121 formal bekannt, aber nicht in Montageanleitungen, Prüfungen und Nachunternehmersteuerung verankert.
- Verkehrskonzepte ohne harte bauliche Trennung; zu viel Vertrauen in Warnwesten und Blickkontakt.
- Kulturelle „Sicherheitskompromisse“: Zeit‑/Kostendruck schlägt Standards; Melde‑ und Lernkultur schwach.
7. Praxis‑Checkliste „Tödliche Risiken beherrschen“
Kurz und wirksam – das sind die Mindeststandards, an denen ich Betriebe messe:
- Absturz: Für jedes Höhenrisiko dokumentierte Wahl kollektiver Sicherungen (TRBS 2121‑Serie). Leiter nur als Zugang/Hilfsmittel, nicht als Arbeitsplatz – Ausnahmen begründen.
- Verkehr im Betrieb: Pläne mit getrennter Wegeführung, Einbahn‑Regime, definierte Querungen; Rückwärtsfahrten organisatorisch/technisch minimiert; Sichtfelder belegt.
- Flurförderzeuge: Nur beauftragte, qualifizierte Fahrer; technische Zonen‑/Personenwarnung in Engstellen; Freigaberegeln für Mischzonen.
- Maschinen/Instandhaltung: Freischalt‑ und Verriegelungsprozeduren (LoTo), Prüfungen vor Anlauf; keine „Bypässe“ von Schutzeinrichtungen.
- STOP und Gefährdungsbeurteilung: Nachweisliche Priorisierung von Substitution/Technik vor PSA; Wirksamkeitskontrolle und Fortschreibung.
- Führung & Kultur: „Vision‑Zero“-Regeln operationalisiert (Ziele, Indikatoren, Audits), regelmäßige Kulturdialoge im Betrieb.
8. Ergänzende Hinweise zur Dateninterpretation
- DGUV‑Kennzahlen unterscheiden zwischen Arbeits‑ und Wegeunfällen sowie zwischen verschiedenen Versichertengruppen. Ein Teil der veröffentlichten 2024er Zahlen (z. B. 754.660 meldepflichtige Arbeitsunfälle, 345 tödliche Arbeitsunfälle) bezieht sich explizit auf den Bereich „UV der gewerblichen Wirtschaft und der öffentlichen Hand“ und ist deshalb nicht 1:1 mit der Gesamtkommunikation vergleichbar. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Frage des Bezugsrahmens.
- BAuA‑Faktenblätter zu tödlichen Absturzunfällen bestätigen die Dominanz des Absturzes über lange Zeiträume – unabhängig von kurzfristigen Schwankungen.
9. Kernaussagen für Entscheider
- Wenige Szenarien erklären den Großteil der Todesfälle – vorn dabei: Absturz und Fahrzeuge. Ressourcen dorthin bündeln.
- Kollektive Schutzkonzepte first – STOP ist Rechtslage, kein Wunschkonzert.
- Führung wirkt – ohne klare Prioritätensetzung für Sicherheit kippen Standards unter Zeit‑/Kostendruck. Vision‑Zero liefert den Management‑Rahmen, proaktive Indikatoren machen ihn messbar.
Quellen (Auswahl)
- DGUV, „Bilanz 2024“ (Zahlen zu 2024, inkl. tödliche Arbeits‑/Wegeunfälle, Unfallquote).
- DGUV, „Arbeits‑ und Wegeunfallgeschehen“ (Kennzahlen 2023/2024, Bereich der gewerblichen Wirtschaft/öffentlichen Hand).
- DGUV‑Statistikberichte 2023 (Statistiken für die Praxis; Arbeitsunfallgeschehen 2023) – Branchenauswertungen, Definitionen.
- BG BAU, Pressematerial Jahreszahlen 2024 (Ursachenstruktur tödlicher Unfälle 2023/2024).
- BAuA, Fakten „Tödliche Arbeitsunfälle – Absturzunfälle“ (Langzeitanteile).
- SGB VII § 8, § 193 (Definition/Anzeigepflicht).
- TRBS 2121/‑1/‑2 (Absturzschutz – allgemeine Anforderungen, Gerüste, Leitern).
- HSE/HSENI, Workplace Transport – Segregation, Rückwärtsfahrten vermeiden.
- DGUV, „Kultur der Prävention“; IVSS/„Vision Zero – 7 Goldene Regeln“; proaktive Indikatoren.
- Destatis, Geschlechterverteilung tödlicher Arbeitsunfälle.





